Meine kleine Schwester Claudia war eine unglaubliche Erfinderin. Sie hat sich immer wieder und oft, neu erfunden. Ich möchte mit zu der Erzählung beitragen, mit der wir uns an Claudia erinnern.

Claudia Wolke war ja meine kleine Schwester, aber mein großes Vorbild. Sie hat mit Links die Schultüre aufgedrückt, als sie noch nicht zur Schulde ging und mich hinbrachte, weil ich sonst gar nicht reingekommen wäre, wegen der schweren Türen.

Aber eigentlich war alles ganz anders und wir waren Zwillinge und Jungs. Das war unsere Entscheidung und so haben wir gelebt. Auch wenn wir manchmal Mädchenkleider tragen mussten, waren wir uns einig, dass ist nur eine Verkleidung und wir sind Jungs und können und dürfen alles.

Wir haben triumphale Momente erlebt, wenn wir es geschafft haben, dass der Friseur uns Jungs-Frisuren geschnitten hat und uns, so von sich aus, gefragt hat, ob wir Zwillinge seien. Von sich aus! Das war ein hart erarbeiteter Triumph und keine leichte Übung. Die Klamotten waren ja gleich. Unser Problem, die unterschiedliche Haarfarbe und Größe, haben wir durch synchrone Bewegungen ausgeglichen. Da haben wir viel üben müssen, aber es hat oft geklappt. Wir haben vor Freude gebrüllt und getanzt, wenn wir wieder raus waren. Das war unendliche und riesige Freude, wir haben uns selbst erfunden. Aber eine endliche Freude natürlich auch. Wenn wir unserm Vater wieder begegnet sind, gab es richtig Ärger.

Man zahlt für alles einen Preis, haben wir so gelernt und wir haben uns entschieden jeden Preis zu zahlen. Als Zwillinge durch die Wiesen an sonnigen Nachmittagen zum Bruchbuden-Kino laufen, im Dunklen sitzen und Zorro-Filme in Schwarz/Weiß auf zerkratztem Zelluloid ansehen und danach, oh Wunder, als lebensechte Zorro´s in Farbe wieder rauskommen. Wir haben mit unseren Stöcker-Säbeln unsere eigenen Schatten dargestellt. Niemand kann auf seinen eigenen Schatten treten, sagt man, aber wir konnten das!

Mit 10 haben wir zusammen beim Pferdehändler angeheuert und waren ab sofort selbständig mit eigenem Geld in der Tasche. Wir haben viel gerauft, gerungen und sind Rennen geritten. Es gab keinen Sieger, außer dem ersten und dem Zweiten. Das war eine geniale Zeit und wir haben sie als Doppelpack verbracht.

Und Claudia, die Stärkere, hat mich immer beschützt. Ich, Zwerg, brauchte vor niemanden Angst zu haben. Das hab´ ich in mein ganzes weiteres Leben mitgenommen und dafür danke ich Claudia am allermeisten.

Schau mal, hast du einmal gesagt, siehst du da oben die Wolke? Ja. So können wir uns immer aneinander erinnern, auch wenn wir uns nicht sehen. Das bin ich da oben: Claudia Wolke.

Im letzten Jahr, in dem ich mich intensiv auf den Tod von Claudia Wolke vorbereitet habe, hat mein Leben unvermutete Wendungen genommen, es hat mich geführt und herumgestoßen, gehalten und fallen lassen. Es war eine Achterbahn mit Ziel. Ich habe mich treiben lassen, bin Hinweisen nachgegangen, bin herumgetrödelt um zufällig auf den nächsten Hinweis zu stoßen, der mich in neue Wesenswelten geleitet hat. Ich musste das Wesentliche auf einer tieferen Ebene neu lernen. Vertrauen.

Alles hat sich auf diesen Moment bezogen, an dem meine kleine Schwester, Claudia Wolke, gehen würde. Es war das verwirrendste Jahre meines Lebens.

Claudia Wolke und ich haben von ihren sechzig Jahren nur 13 zusammen verbracht. Das ist nicht viel, aber es hat mir viel gegeben.

Das du die erste von uns 5 Schwestern bist, die gehen wird, fand ich schwer und ungerecht. Jetzt weiß ich, dass es so richtig ist, die Mutigsten gehen immer alleine und vorne. Und das hast du toll gemacht, Claudia, echt richtig, unfassbar toll. Man zahlt für alles einen Preis. Man muss entscheiden. Jammern gilt also nicht.

Und jetzt sag ich zum Schluss: Gute Nacht, ohne Wiederholung, so wir alle es uns als Kinder aus den Doppelstock-Betten zugerufen haben und nie damit aufhören konnten. Aber, ich möchte es verändern, meine Schwester Claudia Wolke.

Gute Nacht, ja.
Aber bitte mit Wiederholung.

Köln, Juli 2016